Was hat Religion mit Glück zu tun und kann ich glücklich sein ohne Religion? 

Matthäusevangelium 5:

1 Als Jesus die Menschenmenge sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger versammelten sich um ihn. 2 Dann begann er, sie mit den folgenden Worten zu lehren:

3 »Glücklich sind, die erkennen, wie arm sie vor Gott sind, denn ihnen gehört sein himmlisches Reich.

4 Glücklich sind, die über diese Welt trauern, denn sie werden Trost finden.

5 Glücklich sind, die auf Frieden bedacht sind, denn sie werden die ganze Erde besitzen.

6 Glücklich sind, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit haben, denn sie sollen satt werden.

7 Glücklich sind, die Barmherzigkeit üben, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren.

8 Glücklich sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott sehen.

9 Glücklich sind, die Frieden stiften, denn Gott wird sie seine Kinder nennen.

Predigttext:

Kleine, sehr jung aussehende Ärztin. Ihre Augen sind leicht gerötet. Das hier ist schon ihr zweites Turnusjahr und wieder passiert ihr das. Einige skeptische Blicke von den Kolleginnen. Es heißt ja – ein guter Mediziner weint vor seinen Patienten nicht. Aber sie muss weinen. Der alte sterbende Mann im Bett erinnert sie an ihren Großvater: groß, schlank, die schmalen Schultern unter der Decke wirken wie ein von der Abendsonne langgezogener Schatten der früheren Kraft. Der Mann liegt seit Wochen alleine im Spital, das sind seine letzten Tage und sie muss wieder ihm wieder eine Blutprobe abnehmen. Wozu? Überall auf seiner Haut sieht man kaum sichtbare Spuren von Blut oder Ausscheidungen, die nur dann, wenn man noch Kraft hätte sich selbst zu waschen, ganz wegbekommen könnte. Das abgemagerte Gesicht erzählt von Leid und Müdigkeit. Unter der Sauerstoffmaske sammeln sich winzige Tropfen von Blut und trocknen mit der Zeit an den Rändern des durchsichtigen Plastiks. Jemand sollte das sauber machen. Jemand kommt bestimmt bald.

Die Ärztin nimmt die Hand des alten Mannes in Ihre. Sie würde so gerne diese Hand einfach halten, damit der letzte Abschnitt für ihn leichter wird. Sie streichelt leicht seine Hand, atmet durch und denkt daran, warum sie zu dem Patienten geschickt wurde. Blutabnahme. Eine Ader zu finden scheint unmöglich. Doch sie muss. Sie probiert und probiert. Es wird unerträglich. Der Mann scheint nicht zu reagieren, doch der Atem unter der Maske wird anders. Und seine Haut ist noch dünner und trockener, und die Müdigkeit ist so unerträglich. Die Ärztin schaut auf seine Haut und sie spürt, dass jede Berührung dem alten Mann weh tut. Er braucht Ruhe. „Entschuldigung!“ spricht sie leise. Ihr tut es weh. Sie spürt den Schmerz. Doch, sie hat die Probe und muss weiter.

Sie würde so gerne die Hand halten. Das Himmelreich zusprechen. Diesen Weg leichter machen. Jetzt muss sie weg.  Als sie ins Ärztezimmer kommt, trifft sie auf den Praxisleiter, der gerade am Computer schreibt und sie kommen ins Gespräch. „Wozu sollte ich ihm das Blut abnehmen, er ist sterbend?“ „Das machen wir so“ – ist die Antwort.  „Ich habe ihn unnötig auf seinem Weg gestört! Warum sollte ich das machen?“  „Er spürt nichts mehr, keine Sorge“ – antwortete der Kollege. Die Trauer der Ärztin verwandelt sich von Sekunde zu anderen in Wut. „Aber ich spüre es! Ich spüre es! Mir tut es weh!“ stieß sie wütend die Worte aus. „Wozu sollte ich dem Mann Blut abnehmen, wenn das absolut sinnlos ist?“ „Solche Ärzte, wie du, die alles hinterfragen, brauchen wir nicht!“ – antwortet der Praxisleiter voller Ruhe.

Eine echte Geschichte einer jungen Ärztin aus Wien. Sie ist weiterhin Ärztin. Nur anders, als der Praxisleiter. Sie hinterfragt weiterhin, sie bereitet keinem Schmerzen, nur weil das so gewohnt ist und spürt das Leid ihrer Patienten, baut auf ihr Wissen und ihre Menschlichkeit, sucht Wege, wie sie Leid lindern kann.   Sie spürt weiterhin – Liebe ebenso, wie Schmerz, sie erlebt Erfolg und Niederlagen, die manchmal sehr heftig sind, und das Wichtigste – sie hat es gelernt hinter sich selbst zu stehen unabhängig von dem, was eine Agenda, eine Vorschrift, ein Glaube, eine Überzeugung oder Gewohnheit eines anderen ihr vorschreibt. Sie ist eine glückliche Ärztin und Frau und ihr selbständiges Denken schätzen ihre Patienten.

Hinter sich selbst zu stehen – ist das nicht der Kern der Reformation, die wir heute feiern? Der vielzitierte Text: „Hier stehe ich! Gott helfe mir. Ich kann nicht anders!“ den Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521 vor dem Kaiser Karl den 5 beim Verhör gesagt haben sollte bringt das auf den Punkt. Ist das nicht auch der Geist der Bekennenden Kirche im 20 Jahrhundert, dessen bekanntester Vertreter Dietrich Bonhoeffer war, der bereit war bis zum Tod der inneren Stimme Gottes zu folgen statt sich an äußeren Vorgaben zu halten und Hass und Verderben zu akzeptieren um für die Hörigkeit mit äußerem Leben belohnt zu werden trotz innerlichem Tod.

Warum können mansche Menschen sich selbst, der Stimme Gottes in ihnen, so treu sein? Was gibt mir die Kraft ganz, ganz, ganz in allem wirklich hinter mir selbst zu stehen? Die unfassbare Konsequenz dafür ist, dass meistens diese Menschen auch noch tief, von außen kaum nachvollziehbar, glücklich sind! Ihr Glück ist von äußeren Umständen unabhängig und sie verursachen große Veränderungsprozesse, die über Jahrhunderte wirken.

Vielleicht sind das Menschen, die klar wissen, wer sie sind und in ihrem Lebenswandel ihre Ganzheit leben und nichts vertuschen oder ausblenden müssen. Ganz sein, meine Identität zu kennen, zu wissen, wer ich bin, ist immer auch die Frage der Religion, bzw., die Frage, was verehre ich wirklich, was ist mir heilig, wovon bin ich abhängig oder was „geht mich unbedingt an“. Meine Identität ist nicht davon abhängig, welche Automarke ich bevorzuge und nur leicht abhängig davon in welcher Firma ich beschäftigt bin. Meine Identität ist aber stark davon abhängig, was in mir die absolut oberste Instanz ist, wenn es um schwere Entscheidungen geht, wenn es um Leben und Tod geht. Kennen die Menschen diese Instanz in sich? Oder ist es leichter zu sagen – ich habe keine Religion! Mir ist nichts heilig, von nichts bin ich abhängig und nichts geht mich unbedingt an. Ich beobachte das Leben nur. Mehr gibt es nichts.

Luther war kein distanzierter Beobachter: Aus der Religion entwickelte er ein Bekenntnis, das auch äußerlich vertretbar, in Worten fassbar und für andere nachvollziehbar ist. Wir als Evangelische leben in dieser Tradition. Unser Bekenntnis, unser Evangelisch-sein umfasst das ganze Leben und ist sichtbar. Aber es fließt aus der Tiefe des für Gott und die Welt gleichermaßen sensiblen Herzens, wo wir das spüren, was uns unbedingt angeht, wenn wir mit den Worten vom Theologen Paul Tillich, Gott beschreiben: Das, was uns unbedingt angeht!

Ist die Definition von Paul Tillich noch aktuell, wenn so viele Menschen heute sagen, dass sie keine Religion brauchen?

In der Lesung haben wir gehört: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.“  Worte aus einem der wichtigsten Jüdischen Gebete bis heute und ein berührendes Wort für uns Christen. Echte Gottesbeziehung geht nur – mit ganzem Herzen, mit ganzer Kraft, mit ganzer Seele. Das bedeutet nicht nur mit den schönen Seiten, sondern mit all den unsympathischen komme ich vor Gott. Anders geht es nicht. Glauben bedeutet ganz sich auf Gott einzulassen. Es ist kein Besuch beim Präsidenten, wo wir die schönsten Kleider anziehen und die Socken mit Loch zuhause lassen. Vor Gott stehen wir mit allen unseren Facetten, weil er mit ihnen allen gut umgehen kann, er liebt (ich nutze das Wort LIEBT und meine keine romantisierte, bejahende Liebe) sie alle gleichermaßen und damit wir das auch lernen – uns ganz und realitätsbezogen zu lieben, brauchen wir die Fähigkeit uns unsere Fehler und unserem Leben die größeren oder kleineren Substanzfehler zu vergeben. Dafür brauchen wir Christus. Nein, Gott lässt uns nicht denken, dass die Socken keine Löcher haben, er täuscht uns nicht, aber, wie unvorstellbar das auch manchmal scheint, er liebt genau unsere löchrigen Socken mit derselben Liebe, die er für den feinen Abendanzug hat. Wegen Christus. Diese Verbundenheit, die wir mit Gott haben, müssen wir zu uns selbst erst lernen. Wir müssen lernen die unschönen Seiten in uns und die nicht gelungenen Lebensabschnitte mit den Augen Jesu anschauen und lieben. Die göttliche Liebe zu all dem, was überhaupt nicht liebenswert ist, macht uns ganz. Das bedeutet nicht, dass wir das Schlechte, Fehlerhafte rechtfertigen oder weitermachen dürften. Auf keinem Fall! Aber wenn wir unsere Religion begriffen haben, dann haben wir es gelernt ganz hinter uns selbst zu stehen. Und das ist der Weg zum Glück. Das ist schwierig und manchmal glauben wir, wir könnten manche Themen loswerden, wenn wir sagen: ich habe keine Religion und die Tür der Kirche habe ich für immer zugemacht.

Wir wissen, wie schwer es ist sich selbst ganz zu lieben. Und ich glaube, in der Bergpredigt, als Jesus den Menschen die Seligpreisungen zusprach, wusste er das auch. Die eigene Armut, das eigene Leid, die eigene Trauer, den Hunger nach Gerechtigkeit, die Schwäche, die Verzweiflung, die Enttäuschung, die Müdigkeit, die Zartheit, die andere nicht beachten, die Verletzlichkeit, die andere übersehen, den eigenen Irrtum oder falsche Worte. Doch genau das alles aus der Perspektive der absoluten Liebe ansehen zu können, macht glücklich. Die schwierigen Seiten der Lebensgeschichte anzusehen ohne sie rechtfertigen zu müssen, ist Glück.

„Selig sind die… „ - sprach Jesus zu den Menschen. Wollten sie das damals so hören? War das angenehm für die Menschen, die sich nach Gerechtigkeit und leichterem Leben sich sehnten. Oder überraschten die Worte die damaligen Zuhörenden genauso, wie uns heute. Und wir zweifeln, ob Religion nun etwas mit Glück zu tun hat?

Ich erlaube mir zu behaupten, dass Glück der Sinn der Religion ist. Glücklich zu sein! Nein, nicht Glück haben und auch nicht an einen Dauerglückszustand zu gelangen und nur Begeisterung zu spüren. Glücklich, selig zu sein bedeutet etwas viel Tieferes dafür gibt es keine Worte und das ohne Jesus nicht geht. Warum geht das nicht ohne Jesus? Weil es sich hier um das Glück handelt, das nur durch das Ganzwerden des Menschen möglich ist. Jesus macht uns fähig Ganz zu sein. Das ist die Existenz in der jeder von uns in seinem feinsten Anzug und löchrigen Socken gleichzeitig steht, der heilig und Sünder gleichzeitig ist. Der Erfolgreiche und der Verlierer. Der Geliebte und der Gehasste. Der Starke und der Schwache. Ist in so einer Gemeinschaft ein Krieg überhaupt möglich?

Jesus macht uns ganz, indem er all das, was wir am liebsten für immer vergessen würden, liebevoll berührt. Nein, nicht verständnisvoll. Vieles verdient weder Verständnis noch ist es in der Tat zu entschuldigen. Jesus befreit uns von dem Zwang uns zu rechtfertigen. Und es gibt so vieles im Leben, was wir ja gar nicht rechtfertigen können ohne den Krieg weiterzuführen. Sei das persönlich oder kirchlich, Wachstum und Entwicklung in allen Beziehungen ist erst dann möglich, wenn der Prozess der Ganzwerdung stattgefunden hat. Wenn das Bedürfnis alles schön zu reden oder distanziert neutral zu sein, aufgehört hat. Luther war kein netter Mensch und hat nicht alles richtig gemacht, was aber die die Bedeutung der Kirchen- und Weltgeschichtlichen Wende kein bisschen mindert. Diese Erkenntnis stellt uns vor eine wichtige Aufgabe: Nur dann, wenn wir als Kirche mutig genug sind unsere Schwächen und Macken wahrzunehmen, können wir als Evangelische in der reformatorischen Tradition weiterleben und uns weiterentwickeln. Weiterentwicklung ist unsere echte Tradition. Hätte Luther gesagt – Hier stehe ich, ich kann auch anders, wie der Titel des satirischen und kirchenkritischen Buches eines Pfarrers und Theologieprofessors aus Bochum, Okko Herlyn, humorvoll besagt, hätten wir keine Hoffnung und vielleicht gäbe es uns inzwischen gar nicht. Vielleicht hätte die Kirche sich aus dem Zwang korrupter Persönlichkeiten noch immer nicht befreit. Das stehen hinter sich selbst, das Stehen zu dem göttlichen Kern in uns durch Jesus, verändert das Leben. Es geht nicht anders. Es geht nur in das Glück, das Gott unabhängig von Situation und Umgebung, uns schenkt, hinein. Das Leben Jesus hat uns ebenso gezeigt, dass es Situationen im Leben gibt, in denen mit Gott alle Grenzen relativ werden und es geht nicht anders, als nur ganz zu sein und ganz hinter sich selbst zu stehen. Und dann geht es weiter auch wenn es nach einem Ende ausschaut. Und nur dann ist eine Weiterentwicklung in der Kirche in Aussicht. Voller Vertrauen, dass Religion zu mehr Glück führt.

Hinter mir selbst zu stehen sollte für einen Christen eigentlich nicht schwer sein. Er ist in dem nicht alleine. Hinter jedem Christen und jeder Christin, mit welcher Lebensgeschichte auch immer, seit seiner oder ihrer Taufe, steht Jesus. Ganz. Hinter der ganzen Lebensgeschichte. Und manchmal weint er und trotzdem steht er hinter uns.

Das ist ein unfassbares Gefühl Christ zu sein und auf das eigene Leben, auch auf die eigene Kirche kritisch, ehrlich und hoffnungsvoll ohne Angst schauen zu dürfen. Nichts muss ausgeblendet werden um glücklich zu sein. Nichts darf ausgeblendet werden um weiter zu gehen. Ich darf, ja ich muss ganz hinter mir und meinem Leben stehen um Christ zu sein. Nichts beschämt mich vor Gott, wenn ich an Jesus festhalte.

Das tut so gut. Und doch will ich noch nachdenken: Würde ich das je im Leben glauben, wenn ich nicht mit den Menschen aus der Gemeinde in Berührung gekommen wäre und wenigstens von einem Menschen auf dieser Welt den Zuspruch bekommen hätte: Durch Jesus bist du von Gott ganz und absolut bedingungslos geliebt. Hätte ich auch dann die Hoffnung? Den Mut weiterzugehen, mich weiterzuentwickeln?

Bin ich heute für die Weiterentwicklung der Kirche und die Hoffnung für die Welt verantwortlich in dem ich mit Jesus gehe und ganz hinter mir stehe? Amen.

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Luther und der Weltspartag